Alfa Romeo Giulia: Neuauflage
Alfa Romeo ist ein Phänomen. Kein anderer Automobilhersteller verfügt über eine derart treue Fangemeinde, wie die 1910 gegründete Traditionsmarke aus Mailand. Jeder andere Autobauer, der in den letzten Jahrzenten seine Fans so nachhaltig mit mieser Qualität, lieblosem Design und belanglosen Produkten vertrotzt hätte, wäre längst nur noch eine Fußnote der Autogeschichte. Nun wagt Alfa mit dem langersehnten Debüt der Mittelklasse-Legende Giulia einen Neuanfang. Mal wieder. Ein durchaus ambitionierter Plan, denn Julia soll jene Auto-Romeos betören, die längst zu BMW, Mercedes oder Audi abgewandert sind. Kann das gut gehen?
Alfa Romeo nahm zwischen den Weltkriegen in der Autowelt eine Stellung ein, die heute am besten mit der von Ferrari zu vergleichen ist: Ein Anbieter leitungsstarker, bildschöner und exklusiver Sportwagen und Coupés für die Schönen und Reichen. Im Motorsport galt Alfa Romeo unter Rennleiter Enzo Ferrari als einziger ernsthafter Wettbewerber, der in der Lage war, die deutschen Silberpfeile von Mercedes und Auto Union zu ärgern. Mitte der 1950er-Jahre emanzipierte sich die Marke mit der Giulietta und später der Giulia zum progressiven Großserienhersteller, der Aufsteiger mit sportlichen und ungewöhnlich hübsch gezeichneten Fahrzeugen in Scharen verlockte.
Die 1962 vorgestellte Mittelklasselimousine Giulia etablierte sich als Pionier einer neuen Klasse von Sport-Limousinen, die schnell Nachahmer fand, zum Beispiel in Gestalt des BMW 1500. Während die Bayern das Erfolgsrezept in Richtung 2002 und 3er-Reihe perfektionierten, wählte Alfa den Weg über die Giulietta von 1977, den Alfa 75 ab 1985, den 155 ab 1992, den 156 von 1997 und dessen Nachfolger 159 ab 2005. Nun heißt es in Mailand ab sofort wieder Giulia.
Formal findet die neue Giulia zu ansprechenden Linien zurück. Der 4.64 Meter lange Viertürer punktet äußerlich vor allem mit seiner unverwechselbaren Front, die wie seit den Gründertagen der Marke vom herzförmigen Kühler, dem „Cuore Sportivo“ gekennzeichnet ist. Dem Heck fehlt diese Eigenständigkeit etwas, dafür erreicht der Gepäckraum ein Volumen von 480 Litern.
Was die Fans der Marke besonders freuen wird: Die Technik kehrt wieder zur Ihren Wurzeln zurück. Wie zuletzt beim Alfa 75 treiben die vorerst vier verfügbaren Motoren nunmehr wieder die Hinterräder an. Dabei decken die drei Diesel ein Leistungsspektrum von 136 PS bis 180 PS ab. Das Topmodell QV tritt mit 510 PS an. Weitere Motorvarianten folgen im Laufe des Jahres.
Alfa verkauft sich seit jeher über die Emotionen. Diese Strategie soll die Giulia verstärkt pflegen. Darum darf, nein muss es für das erste Kennenlernen das sportliche Spitzenmodell sein. Traditionell trägt es die Bezeichnung „Quadrofolio Verde“, kurz QV (zu Deutsch: vierblättriges Kleeblatt). Bei Alfa Romeo nimmt QV die gleiche Stellung ein, wie bei BMW die M-Modelle oder AMG für Mercedes. Somit steht auch die Zielrichtung für die Über-Giulia fest: BMW M3 und Mercedes-AMG C 63 S. Die bürgerlichen Modelle sollen in den Revieren von Audi A4, BMW 3er und Mercedes C-Klasse ihre Verführungskünste ausleben.
Damit Julia sich nicht mit sportlicher Garderobe von der Stange schmücken muss, durfte sich die QV-Variante bei den edlen Konzernschwestern Maserati und Ferrari einkleiden. Ferrari liefert beispielsweise den famosen V6 mit 2.9 Liter Hubraum, der aus dem Vierliter-V8 entstanden ist. Vier obenliegende Nockenwellen, Biturbo-Aufladung, Leichtmetall und eine manuelle Sechs-Gang-Schaltung sind technische Zutaten, die sich in der Praxis mit beeindruckender Kraftentfaltung, Drehfreudigkeit und einem betörenden Sound verwirklichen dürfen. Schon nach wenigen Metern sind die unseligen Sechszylinder im 159 vergessen, die aus unerfindlichen Gründen von der australischen GM-Tochter Holden stammten und lederzähe Drehzahlverweigerer, aber umso trinkfester waren. Der neue V6 beamt den 1.7-Tonner aus dem Stand in 3.9 Sekunden auf Tempo 100 und erlaubt 307 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Die Sportsitze passen auch dem 1.90-Lenker wie handgefertigte Mailänder Schuhe, der Innenraum gibt sich (auch bei den bürgerlichen Diesel-Modellen) aufgeräumt, modern und übersichtlich. Der V6 verteilt seine gewaltige Kraft auf alle vier Räder, in deren filigranen 19-Zöllern sich innenbelüftete Bremsscheiben mit Durchmessern von Familienpizzen drängeln. Sie beißen beim Verzögern zu wie der weiße Hai beim unvorsichtigen Surfer.
Dank vier verschiedener Fahrprogramme in den Geschmacksrichtungen von „Komfort“ bis „Race“ kann der QV alles vom gepflegten Reisen mit beachtlichem Federungskomfort und narrensicheren elektronischen Regelwerken bis zu gepflegten Drifts auf der Rennstrecke. Die limitierte Zahl der Test-Runden ist viel zu schnell abgearbeitet, dennoch lautet das Fazit: Unterm Kleeblatt blüht Julia wirklich zur talentierten Verführerin auf: M3- und AMG-Romeos aufgepasst!
Mit der Giulia leitet Alfa Romeo die weltweite Renaissance der Marke ein. Die großen Stückzahlen sieht Markenchef Harald J. Wester in den USA und in China. Darum wird es auch keine Kombiversion geben, die nur in Europa auf Interesse stößt. Ende des Jahres legen die Italiener mit ihrem ersten SUV nach.
tl/amp