DTM, quo vadis?
Kritiker werfen der DTM einiges vor. Die Rennen seien oft alles andere als spannend, den Fahrern fehle ein gewisses Charisma, wie es einst Hans-Joachim Stuck oder Klaus Ludwig hatten. Schaut man auf die Tribünen, zeigt sich oft, dass auch die Zuschauerzahlen nicht mehr so sind, wie es in den glorreichen DTM-Jahren der 1990ern war.
Medial steht die Rennserie, die sich gerne selbst mit dem Wort "premium" beschreibt, weit hinter der allmächtigen Formel 1. Doch warum? Die beteiligten Hersteller tragen die klangvollen Namen Audi, BMW und Mercedes. Alle drei haben eine lange Motorsport-Tradition und treue Fans. Doch diese finden immer seltener den Weg zur Rennstrecke. Natürlich darf man da nicht mehr den Maßstab der goldenen DTM-Ära anlegen. Verglichen mit den 90ern ist das Freizeitangebot heutzutage inflationär. Sportveranstaltungen buhlen gemeinsam mit Themen- und Freizeitparks, Mutiplex-Kinos und Volksfesten um die Gunst der Besucher. Da ein DTM-Wochenende für die typische vierköpfige Familie unter dem Strich locker im oberen dreistelligen Euro-Bereich anzusiedeln ist, können oder wollen viele Fans sich einen DTM-Besuch nicht mehr so häufig leisten.
Weichen sie also wohl oder übel auf die TV-Übertragung im Fernsehen aus? Nein, wie die Zuschauerzahlen dort zeigen. Lediglich 930.000 Zuschauer hatten beim Sonntags-Rennen die ARD eingeschaltet. Mit durchschnittlich rund einer Million Zusehern liegt die Rennserie ungefähr gleichauf mit der Übertragung der Schwimm-WM. Doch in diesem Fall gehört der Schwarze Peter auch dem TV-Partner. Emotionslose Rennübertragungen, überforderte Kommentatoren und dazu noch Norbert Haug als Experte, der zu seiner aktiven Zeit als Mercedes-Sportchef dafür bekannt war, permanent mit völlig belanglosen Statistiken die Menschen in den Schlaf zu säuseln. In den sozialen Netzwerken regen sich die Fans nach jedem Rennen über die schlechte Berichterstattungen der ARD auf, die sich diese auch noch vom Veranstalter der DTM teuer bezahlen lässt.
So weit, so schlecht, möchte man sagen. Doch auch vor Ort müssen die Fans eine gewisse Leidensfähigkeit an den Tag legen. Die ITR, also der Veranstalter der Deutschen Tourenwagen Masters, bringt in regelmäßigen Abständen Ideen ins Spiel, die es dem Fan schwer machen, die Rennen zu verstehen. Dass diese oft aus der Formel 1 übernommen werden, macht die Sache nicht besser. Dies alles soll dazu beitragen, dass die Rennen spannender werden, heißt es jedes Mal in der Begründung.
Aber Spannung lässt sich nicht so einfach künstlich erzeugen. Außerdem müssen die Fahrer fürchten, dass sie bei rustikalen Überholmanövern, wie sie in den 1990ern in der DTM an der Tagesordnung waren, heute eine Strafe aufgebrummt bekommen. Die beteiligten Hersteller sehen es nicht gern, wenn ihre Autos mit abgerissenen Stoßfängern oder Beulen in den Türen ihre Runden drehen. Das lässt sich in den Augen der Marketingabteilungen nicht mit dem Premium-Anspruch der Hersteller und der Serie vereinbaren. Ob die Fans das sehen wollen, interessiert nicht wirklich. Nicht falsch verstehen, es geht hier nicht darum, mutwillig Unfälle herbeizuführen, bei denen Schäden in Millionenhöhe oder gar Verletzte zu beklagen sind. Aber dass sich Fahrer bei einem Überholmanöver auch einmal "anlehnen" können, gehört zur Tradition des Tourenwagensports.
Wenn aber nun, wie beim Rennen auf dem Red Bull Ring, Timo Scheider zwei Mercedes ins Kiesbett schickt und die sogenannten Fachmedien daraus einen Riesenskandal machen, sollte man die Sache vielleicht mit etwas Distanz betrachten. Dass er von seinem Team einen Funkspruch bekommen hat: "Timo, schieb ihn raus!", lässt sich nicht leugnen. Die Fernsehzuschauer haben es live mitverfolgen können. Dass der Audi-Fahrer tat, wie ihm befohlen, mag man merkwürdig finden, aber er hat nur die Anweisung seines Arbeitgebers ausgeführt.
In der Vergangenheit gab es immer wieder Piloten, die dieses nicht gemacht haben. Klaus Ludwig hat damals im Opel Calibra die eindeutige Anweisung, auf den Sieg zugunsten seines Teamkollegen Manuel Reuter zu verzichten, missachtet. "Das war ich den Fans schuldig!", gab er hinterher zu Protokoll. Opel war sauer, die Fans bejubelten ihn dafür. Aber Ludwig konnte sich so etwas leisten, weil er schon damals ein Typ war, der seinen eigenen Kopf hatte. Die Marketingabteilung war ihm im Cockpit egal, auch wenn es hinterher Ärger gab. Allerdings sind heute solche Rennfahrer in den Cockpits nicht mehr zu finden. Sie sind ohne Ecken und Kanten, erzählen brav, dass sie ihrem Team für die Arbeit danken, dass das Auto wieder mal ganz große Klasse gewesen sei und sie im kommenden Rennen wieder alles geben werden. Da wird kein Konkurrent angegiftet oder geschimpft, wenn das eigene Auto liegen bleibt. Alles schön weichgespült und austauschbar. Doch das ist nicht so positiv, wie sich die Erfinder das vorstellen. Journalisten reagieren zunehmend gelangweilt darauf, verzichten auf Statements nach dem Rennen und machen sich im Media-Center einen Spaß daraus, ob sie die Aussagen der Fahrer schon im Vorfeld erraten können. Die reichweitestarken Medien übernehmen Agenturmeldungen und schicken keine eigenen Redakteure mehr zu den Rennen. Das zeigt das schwindende Interesse an der DTM.
Doch zurück zum "Funkspruch-Skandal". Timo Scheider bekommt die Vorgabe, die beiden Mercedes zu rammen. Hinterher sagt er, dass er nie einen entsprechenden Funkspruch gehört habe. Auch da machen wir ihm keinen Vorwurf. In Deutschland ist es so, dass jeder, der vor Gericht einer Tat beschuldigt wird, als Angeklagter erzählen darf, was er will. Dass sein Sportchef Wolfgang Ullrich nach einigem Hin und Her zugegeben hat, dass der Satz "Timo, schieb ihn raus!" von ihm stammt, darf man nicht gerade als glücklich bezeichnen. Aber beides hat dazu beigetragen, dass sich über Scheider, Ullrich und das Audi-Team Phoenix in den sozialen Medien ein Shitstorm bislang unbekannten Ausmaßes ergoss. Für die DTM ist das gar nicht so negativ. Schließlich macht die Rennserie nun wieder Schlagzeilen und der eine oder andere Fan mag sich daran erfreuen, dass dort wieder etwas passiert.
Doch wenn wir ehrlich sind, wird spätestens beim nächsten Rennen in Moskau niemand mehr darüber nachdenken. Die heutige Zeit ist dermaßen schnelllebig geworden, dass so etwas keinen Skandal mehr darstellt. Selbst lügende Politiker haben eine recht kurze Halbwertzeit, verglichen damit ist die Bedeutung eines unsportlichen DTM-Fahrers äußerst gering.
Und dass man vieles schnell vergisst, mag vielleicht ein letztes Beispiel verdeutlichen. Der ARD-Experte Norbert Haug erzählte nach dem Zwischenfall, dass in seiner langen DTM-Zeit so etwas noch nie passiert sei. Nun ja, hätte er sich doch einmal an das DTM-Rennen 1990 in Hockenheim erinnert. Dort wurde der um die Meisterschaft kämpfende Johnny Cecotto in der ersten Kurve von einem Mercedes-Gaststarter abgeschossen. Dass sich Haug an diesen Bruchpiloten nicht mehr erinnern kann, ist nicht verständlich. Schließlich kennt ihn jedes Kind – es ist der spätere Formel 1-Rekordweltmeister Michael Schumacher…
Abseits der öffentlichen Wahrnehmung wird der absichtliche Unfall vom Red Bull Ring in einigen Wochen geklärt werden. Das Sportgericht des DMSB wird sich mit allen Beteiligten beschäftigen. Sie im Beisein von Anwälten anhören, Telemetriedaten sichten, Video- und Ton-Daten auswerten. Verhandelt wird aber zuerst nur gegen das Team, also gegen Phoenix. Timo Scheider ist bereits mit einem Wertungsausschluss bestraft worden, Sportchef Wolfgang Ullrich ist rechtlich nicht für den Fahrer verantwortlich.
Am Ende dieses Gerichtsprozesses wird es ein Urteil geben. Das kann von einem Freispruch über eine Geldstrafe bis hin zum Entzug der Bewerberlizenz reichen. Sollten sich Anhaltspunkte ergeben, die die Richter veranlassen, nachträglich auch gegen Scheider und Ullrich zu verhandeln, haben sie auch diese Möglichkeit.