Historie

Sonntag, der 6. September 1914. Der Erste Weltkrieg ist gerade einmal einen Monat alt, und der Hurra-Patriotismus, der zu Beginn in Frankreich genauso wie beim Erzfeind Deutschland geherrscht hat, beginnt allmählich zu bröckeln, denn jetzt zeigt der Krieg seine furchtbaren Seiten. Allein vom 20. bis zum 23. August sterben rund 40.000 französische Soldaten, während sich die Deutschen auf der Siegerstraße befinden.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte der französische Generalstab noch ausgesprochen wenig Interesse am Gebrauch von Autos im Militär gezeigt. Erst bei den großen Manövern 1906 und 1907 gab es – wenn auch halbherzig – Experimente mit Pkw-Konvois. Erst 1913 treibt Generalsstabskommandeur Joseph Joffre den Bau strategisch wichtiger Eisenbahnlinien und Fernstraßen voran und bringt ein Notstands-Gesetz zur zeitweisen Beschlagnahme von Kraftwagen und deren Chauffeure auf den Weg, um eine hohe Mobilität der Armee zu erreichen. Damit ordnet Gallieni am Dienstag, dem 1. September den Einzug aller in Paris verfügbarer Autos an. Doch von den normalerweise 10.000 motorisierten Fahrzeugen der Hauptstadt – fast ausschließlich Taxis – sind nur noch 3.000 einsetzbar, die Fahrer der anderen sind längst der Generalmobilmachung gefolgt und befinden sich an der Front.

Die "Voiturettes" bestimmen seit der Jahrhundertwende das Stadtbild von Paris. Den Namen "Taxi" tragen sie, seit der deutsche Unternehmer Friedrich Wilhelm Gustav Bruhn den "Taxameter" zur Bestimmung des Fahrpreises erfunden und ihn seit den 1890er Jahren auf Pferdedroschken montiert hat, wo das Gerät die Radumdrehungen misst.

In Paris beenden motorisierte Mietwagen bereits um die Jahrhundertwende die Vormachtstellung der Pferdekutschen. Ganz besonders populär sind in den Gründerjahren die bis zu 60 km/h schnellen Elektrotaxis vom Typ Jeantaud. Ab 1905 werden sie von den Renault Typ AG 1 mit Viertaktmotor verdrängt, die 1914 Weltgeschichte schreiben, weil sie als erste Autos überhaupt in einem Krieg eine Rolle spielen. Bruhns Taxameter ist es zu verdanken, dass ein Taxiunternehmen 1.500 Autos dieses Typs bestellt, denn fortan wird automatisch berechnet, wie viel der Passagier zu zahlen hat: tagsüber 75 Centimes für die ersten 1200 Meter, danach alle 400 Meter zehn Centimes mehr. Nachts verdoppelt sich der Preis. Neben den Renaults gibt es als Taxis darüber hinaus noch einige Panhards, Clément-Bayards und Peugeots.

Der AG 1 erinnert immer noch stark an eine Pferdekusche: Der Fahrer sitzt im Freien, hinter ihm bietet ein geschlossener Aufbau Schutz und Platz für drei Mitfahrer samt Gepäck. Der Motor, ein Reihen-Zweizylinder, befindet sich vorne zu Füßen des Fahrers, leistet etwa acht PS und verbraucht sechs Liter Benzin auf 100 Kilometer. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 56 km/h ist er sechs km/h schneller als heutzutage auf den Straßen der französischen Hauptstadt erlaubt.

Das ist mit ein Grund dafür, dass frühmorgens am 6. September die Polizei in Paris damit beginnt, sämtliche Taxis zu stoppen und die Passagiere zum Aussteigen zu zwingen. An die Fahrer ergeht der Befehl, sich unverzüglich am Place des Invalides vor der Militärakademie im siebten Arrondissement einzufinden. Als an diesem Abend die Nacht hereinbricht, machen sich die ersten 250 Taxis im Schutz der Dunkelheit beladen mit jeweils fünf Soldaten über die Nationalstraße 2 auf in Richtung Marne. Insgesamt wächst die Zahl der beschlagnahmten Autos in dieser Nacht auf 1.200 Taxis. Insgesamt transportieren sie an den folgenden zwei Tagen 6.000 Soldaten der siebten Division an die Front. Später wird das französische Kriegsministerium sogar für die Fahrten bezahlen: 70.102 Francs bekommen die Chauffeure insgesamt, das waren allerdings drei Viertel weniger als sie eigentlich verdient hätten.

Heute gehören die Marne-Taxis zum Lehrstoff im französischen Geschichtsunterricht. Doch vieles hat sich im Lauf der Geschichte verklärt. So wurde zum Beispiel die Zahl der transportierten Soldaten im Lauf der Zeit vervielfacht und die Ansicht vertreten, dass die Taxis einen wesentlichen Beitrag zum späteren Sieg geleistet hätten. Doch all das gehört in das Reich der Legende. Insgesamt waren über eine Million Soldaten beteiligt. Da fielen die 6.000 Taxi-Soldaten aus Paris als Reserve wohl kaum ins Gewicht.

Als General Joffre in der zweiten Septemberwoche 1914 den Angriff auf die Deutschen einleitet, befiehlt er, er "das eingenommene Gelände zu halten, koste es was es wolle, und sich eher an Ort und Stelle töten zu lassen als weiter zurückzuweichen". Die Order löst einen gigantischen, noch nie erlebten Kampf aus, der sich über 400 Kilometer vom Elsass bis Meaux über mehrere Tage ereignet.

Aufgrund schlechter Verbindungen zu den Armeeführern verliert auch der Deutsche Oberbefehlshaber Helmuth Johannes Ludwig von Moltke zusehends die Herrschaft über die operative Lage. Der Plan, Frankreich mit seinen Hauptkräften in kurzer Zeit besiegen zu können, ist endgültig gescheitert. Schließlich ordnet er den Rückzug an und meldet dem Kaiser: „Majestät, wir haben den Krieg verloren!“ Die Marne-Schlacht, die bis zum 12. September dauerte, gilt als Wendepunkt des Ersten Weltkriegs, weil sie den Vormarsch der Deutschen beendet. Bis heute streiten sich die Historiker darum, wie es zu der bizarren Order des deutschen Rückzugs kam, der sich psychologisch verheerend auf die Moral von Armee und Volk auswirkte. Fest steht jedoch: Sie war die erste Schlacht in der Weltgeschichte, in der Autos eine Rolle spielten.

Hans-Robert Richarz