Historie – Wie Volvo zum Schneewittchensarg kam
Historie – Wie Volvo zum Schneewittchensarg kam. Dass die Geschichte von Volvos legendärem „Scheewittchensarg“ mit dem erfolglosen Versuch begann, einen ersten Kunststoff-Sportwagen zu bauen, erzählt Hans-Peter Thyssen von Bornemisza, ein Journalist und Fachbuchautor, den ältere Kollegen noch unter dem Namen Hanns-Peter Rosellen kennen. Viele Konstrukteure deutscher Nachkriegs-Mobile wurden von ihm persönlich befragt. Diese Recherchen führten nicht nur zu Fachbüchern, sondern auch zu Anekdoten aus den Jahren, als das Auto in Deutschland wieder laufen lernte.
Der damals neue Geschäftsführer der schwedischen Autofabrik Volvo, Gunnar Engellau, lieh sich übers Wochenende im Mai 1957 den neuen Volvo Sportwagen P 1900 aus. Als er am Montagmorgen ins Büro kam, ließ er als erstes die Produktion des Wagens in Kalifornien stoppen, da das Auto seiner Ansicht nach weit weg von Volvo-Qualitätsstandards war. Dabei hatten die Schweden große Hoffnungen in den neuen Wagen gesetzt.Vorbild waren damals die Engländer, die große Aufträge aus den USA für ihre kleinen Sportwagen verbuchten. Vor allem die Marken MG und Triumph verdankten dieser Auftragsflut das Wachsen in neue Größenordnungen. Von dem Wunsch nach spartanischen Sportwagen profitierten dann nicht nur die Engländer, sondern als nächstes die Italiener. Sogar General Motors, der größte Auto-Konzern der Welt, wollte da nicht abseitsstehen, Die GM-Marke Chevrolet zeigte ihren Sportwagen „Corvette“ im Herbst 1953 als Studie, um ihn ab 1954 in Serie auszuliefern. Das Besondere daran: Der rassige Zweisitzer trug eine Karosserie aus dem neuartigen GFK-Kunststoff, der das Leergewicht drastisch senkte.
In jenen Monaten entdeckte Assar Gabrielsson, der Gründer von Volvo und damaliger Chef, dass ein solches Fahrzeug im Volvo-Programm fehlte. Sofort wurde er aktiv, recherchierte, wo in Europa solche Kunststoff-Karosserien gebaut werden könnten. Zwar gab es in West-Deutschland den Schwaben Egon Brütsch, der Prototypen mit Kunststoff-Karosserien baute, doch die genaßen keinen guten Ruf in Sachen Qualität. So nahm er über Mittelsmänner Kontakt zu den Chevrolet-Corvette-Erbauern auf, die ihm den Kontakt zu einer kalifornischen Boots-Werft herstellten. Die Firma Glasspar war ein kalifornischer Bootsbau-Spezialist, über dessen innovative Fiberglas-Produktionstechniken sich Gabrielsson während einer USA-Reise im Jahr 1953 selbst informiert hatte.
Mit einem spektakulären Roadster schien Volvo alle Voraussetzungen mitzubringen, um auch in Amerika Absatzerfolge zu feiern. Der Vertrag zwischen Volvo und Glasspar beinhaltete deshalb auch die Schulung von Volvo-Mitarbeitern in der Produktion von Fiberglas-Karosserien. Glasspar schickte noch 1953 erste Karosserieentwürfe nach Schweden und Volvo entwickelte das dazu ein Chassis als Gitterrohrkonstruktion. Die Basis dafür lieferte der Volvo PV 444, allerdings war der Radstand des Volvo Sport um 20 Zentimeter kürzer als bei der Limousine. Als erster europäischer Roadster mit leichtgewichtiger Fiberglas-Karosserie durfte der Volvo Sport P 1900 als ein Pionier für Sportwagen mit Kunststoffkarosserie gelten. Auf dem Flughafen Torslanda bei Göteborg feierte der Roadster am 2. Juni 1954 seine Weltpremiere. Sein großer Kühlergrill war nach dem Vorbild einer Turbine gestaltet. Auch sonst war der zweisitzige Roadster ein Volvo, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Volvo Sport, intern als P 1900 bezeichnet, stand mit revolutionärer Fiberglas-Karosserie nun für eine neuartige Leichtbautechnik und den Einstieg in den glamourösen Sportwagenmarkt.
1957 lieh sich Volvos neuer Chef dann einen P 1900 übers Wochenende und stoppte die Produktion. Der Rahmen war nicht steif genug, die Plastikkarosserie nicht dicht und auch nicht sauber verarbeitet. Das passte nicht zu den Volvo-Standards. Zwar war das öffentliche Interesse am neuen P 1900 sehr groß. Kaufen wollte das Auto aber niemand. Es passte nicht in das damalige Angebot der Schweden. Außerdem war der P 1800 mit 20 000 Schweden-Kronen (SEK) auch doppelt so teuer wie ein PV 444. Im Jahr 1956 wurden 44 und 1957 23 Fahrzeuge hergestellt. Einige Jahre später erkannte man, dass Fahrgestellnummern wahrscheinlich doppelt vergeben wurde, es wurden also vermutlich sogar nur insgesamt 68 Autos gebaut.
Nun musste schnell ein Nachfolgemodell konstruiert werden. Noch 1957 entwarf der Designer Pelle Petterson, damals noch Mitarbeiter von Pietro Frua in Italien, ein zweisitziges Stufenheck-Coupé mit hochstehendem, ovalen Kühlergrill und hervorstehenden Heckflossen. 1961 kam es auf den Markt. Weil die Kapazitäten bei Volvo voll ausgelastet waren, wurde die englische Firma Jensen, die selbst Sportwagen herstellte, mit dem Bau des P 1800 im englischen West-Bromwich beauftragt. Die Karosserien wurden vom Werk Linwood der Pressed Steel Company per Bahn angeliefert. Ausgestattet war diese Version mit einem 1.8 Liter-Vergasermotor mit 66 kW/90 PS.
Aufgrund von Qualitätsproblemen bei Montage und Lackierung beendete Volvo die Zusammenarbeit mit Jensen 1963; die Produktion wurde nach Schweden in das Volvo-Stammwerk Lundby bei Göteborg verlegt. Der Modellbezeichnung 1800 wurde ein S für Schweden hinzugefügt. Gleichzeitig wurde die Leistung auf 71 kW/96 PS gesteigert. Noch bis 1969 fertigte Pressed Steel die Karosserien. Dann wurden die Presswerkzeuge nach Schweden transportiert und Volvo stellte im Werk Olofström die Blechteile selbst her.
1968 bekam der 1800 S einen komplett neuen Motor mit zwei Litern Hubraum und 77 kW/105 PS. Ein Jahr später wurde dieser dann durch den 1800 E ersetzt, der erstmals eine Einspritzanlage besaß (D-Jetronic) und bei ansonsten gleichem Motor eine Leistung von 91 kW/124 PS erreichte. In der Zeit von Herbst 1961 bis Frühjahr 1972 wurden von dem Coupé 39.407 Exemplare in den verschiedenen Motorisierungen gebaut.Im August 1971 wurde der Volvo P 1800 ES vorgestellt, ein Kombi-Coupé auf der technischen Basis des 1800 E. Es zeigte sich, dass für dieses eigenwillige Coupé eine Marktlücke bestand. In die kleinen Kofferräume üblicher Coupés passten die Ausrüstungen von Golfern nicht. Erst die lange Ladefläche des 1800 ES machte es möglich, ein sportliches Coupé zu fahren und das Golf-Besteck mitzunehmen.
Trotz des hohen Preises wurde das auch als „Schneewittchensarg“ bezeichnete Fahrzeug in den USA ein Verkaufserfolg, während in Europa die Nachfrage begrenzt blieb. 1974 traten in den USA neue Sicherheitsvorschriften in Kraft, die unter anderem große Stoßstangen in einer bestimmten Höhe vorschrieben. So beschloss man bei Volvo, die Produktion des 1800 ES zum Herbst 1973 einzustellen. Die zur Erfüllung der Vorschriften notwendigen Änderungen wären zu umfangreich gewesen. Nach Veröffentlichung dieses Beschlusses steigerte sich – vor allem in USA – die Nachfrage nach dem 1800 ES, sodass die gesamte restliche Produktion innerhalb weniger Wochen ausverkauft war.