Mille Miglia 2015
Man kennt sie aus Fernsehbeiträgen und aus den zahlreichen Kampagnen zur Verkehrssicherheit: Altkluge Kinder, die – angestiftet von Lehrern und Polizisten – jene Autofahrer, die sich über ein Verkehrsschild hinweggesetzt haben, öffentlich tadeln und gravitätisch über die Risiken ihres Verhaltens belehren. Um Italien sollten sie jeweils für eine knappe Woche im Mai einen großen Bogen machen. Denn dort würden sie auf Altersgenossen stoßen, denen es gar nicht schnell genug gehen kann. Verbal und per Handzeichen werden die durchfahrenden Sportwagenfahrer aufgefordert, doch einmal richtig aufs Gas zu treten. Qualmende Reifen und Drifteinlagen ernten Sonderapplaus.
Eigentlich gibt es auch für angehende Paragraphenreiter keinen Grund zur Aufregung: Denn während des traditionellen Straßenrennens mit dem programmatischen Namen Mille Miglia – es führt über 1600 Kilometer quer durch Italien – sind die Verkehrsvorschriften quasi gewohnheitsrechtlich abbedungen. Ob im Alleinflug oder mit Polizeieskorte: Der Gasfuß bleibt meist durchgedrückt, die Reaktion des Publikums ist begeistert. Noch im kleinsten Dorf stehen die Italiener winkend und Fahnen schwenkend Spalier. Eine große Historie. Von 1927 bis 1957 war die Millie Miglia sogar relevant für die Weltmeisterschaft; den Rekorddurchschnitt erzielte damals ein Mercedes-Rennwagen mit einer Geschwindigkeit von 157 km/h. 1957 fand das Rennen zum letzten Mal statt; es wurde als zu gefährlich erachtet. Doch der Mythos blieb, und schon 20 Jahre später wurde die Neuauflage aus der Taufe gehoben. Fortan als Gleichmäßigkeitsrennen; erlaubt waren Typen, die schon an der ursprünglichen Mille Miglia teilgenommen hatten. Neben diesem Revival werden zunehmend an flankierende Wettbewerbe in die Mille Miglia eingebunden; dabei treten jüngere Modelle gegeneinander an, bevor das Feld der Mille-Miglia-Klassiker die alte PS-Herrlichkeit wiederauferstehen lässt.
Auch die neuen Autos können begeistern: Bei Mercedes-Benz ging eine Reihe von SL-Typen der limitierten Edition Mille Miglia 417 an den Start, flankiert von Privatfahrern in verschiedenen SLS-AMG- und SLR- McLaren-Typen; auch ein klassischer 300 SL Roadster war am Start. Das Ferrari-Feld wurde dominiert von zahlenden Kunden in Fahrzeugen wie dem neuen 458 Italia, aber es wurden auch klassische Modelle gesichtet.Eine strapaziöse TourDie landschaftlich äußerst reizvolle Tour führt am ersten Tag von Brescia und Desenzano am Südufer des Gardasees über Verona, Ferrara und Ravenna bis zum Stadtstaat San Marino und Riccione an der Adria. Tag zwei bringt eindrucksvolle Pässe und eine triumphale Einfahrt zur Engelsburg in Rom. Ebenso anspruchsvoll gestaltet sich Tag drei mit Durchfahrten in Siena, Pisa und Lucca bis zur letzen Tagesstation in Parma. Und der abschließende vierte Fahrtag führt von Parma zur Rennstrecke in Monza, wo die klassische Steilkurve befahren wird; die letzten 80 Kilometer sind geprägt vom Alpenpanorama entlang der Routenführung von Bergamo nach Brescia. Selbst für die Piloten moderner Fahrzeuge bringt die Tour nicht unerhebliche Strapazen mit sich. Dafür sorgen schon die frühen Abfahrtszeiten; am Freitag und Sonnabend beginnt schon um 4:30 Uhr morgens die Aufstellung. Zudem sind die Zeitvorgaben teils sehr anspruchsvoll: Wer lieber Pausen einlegt, um die Landschaft oder einen Espresso zu genießen, hat kaum eine Chance auf eine gute Platzierung. Und dann gilt es noch, verschiedene Wertungsprüfungen zu absolvieren, bei denen es auf Präzision und Gleichmäßigkeit ankommt. Noch weitaus anspruchsvoller gestaltet sich die Mille Miglia mit einem der klassischen Autos. Hier sind Fahrer und Beifahrer oft schutzlos den Elementen ausgeliefert – und es hat schon Jahre gegeben, in denen dieses Rennen eine sehr regenreiche Angelegenheit war. Dazu kommt das Risiko mechanischer Probleme; viele Teilnehmer nehmen deshalb in Begleitung einer Wartungsmannschaft teil. Und so mischen sich in das durch Italien eilende Feld neben die eigentlichen Rennfahrer und vielen Fans, die ihrerseits oft mit interessanten Oldtimern unterwegs sind, auch noch Kleintransporter samt Werkstattpersonal.
Allen Unkenrufen zum Trotz war es auch heuer möglich, die Fahrzeuge an der Obergrenze ihrer Leistungsfähigkeit zu bewegen. Dafür sorgte schon die eingangs erwähnte Polizeieskorte: Sie setzte rote Ampeln und Tempolimits mit Blaulicht und sanftem Druck außer Kraft – und das vier Tage lang. Schön, dass es so etwas noch gibt. Und das Beste dabei: Wenn man die begeisterten Reaktionen des alten und jungen Publikums richtig interpretiert, dann kann dieses Rennen noch sehr lange in dieser Form stattfinden.
Jens Meiners/amp