Schicke Schalen von Karmann
Das Konzept, Volumenmodelle mit einer sportlichen Karosserie einzukleiden und dadurch den Preis attraktiv zu halten, ist längst aus der Mode gekommen: Für viele Autofahrer waren die Karmann Ghia in den 1950er- und 1960er-Jahren erschwingliche Traumwagen. In Zeiten, in denen Massenhersteller jede noch so erdenkliche Nische selbst schließen, hat die Idee offenbar auch keine Zukunft mehr – und auch Karmann ist mittlerweile Geschichte. Auf die Historie des umtriebigen Karosseriebauers aus Osnabrück blickt Bernd Wiersch, einst VW-Archivar und Leiter des Museums in Wolfsburg, in seinem Buch „Die Karmann-Story“ zurück.
Detailreich schildert Bernd Wiersch die Entwicklung des Unternehmens, dessen Geschichte 1901 mit dem Kauf einer Kutschenfabrik in Osnabrück begann. Schon ein Jahr später folgten erste Karosserieaufträge aus der damals noch jungen Automobilindustrie. 1913 wurde das erste Patent für Teile der damals üblichen Klappverdecke erteilt. In den 1920er-Jahren nahmen Adler und Hanomag größere Stückzahlen in Osnabrück ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann dann der weitere Aufstieg des Unternehmens. Es war vor allem das jahrzehntelang gebaute Käfer Cabrio, das Karmann ein gutes Auskommen sicherten. Die guten Kontakte nach Wolfsburg brachten Wilhelm Karmann dann auch auf die Idee, dem Käfer ein attraktiveres Blechkleid zu schneidern. Bei Ghia in Italien entstand schließlich der Entwurf des Karmann Ghia Typ 14, dessen schnittige Form wegen der Käfer-Basis mehr Leistung versprach als tatsächlich vorhanden war. Dem Erfolg tat das keinen Abbruch. Dem 1955 vorgestellten Coupé folgte zwei Jahre später das Cabrio und weitere vier Jahre später der auf dem VW 1500 basierende größere Karman Ghia Typ 34, dessen offene Version zum Bedauern vieler Autofans leider ein Einzelstück blieb. Das gleiche Schicksal ereilte viele Karmann-Entwürfe, unter denen besonders die Studie Pik As auf Basis des Audi 80 hervorsticht.
Auch wenn selbst der Golf III Variant zur Überbrückung von Kapazitätsengpässen in Wolfsburg zeitweilig von Karmann kam, ist die Firma weit mehr als nur VW gewesen. Und dieser Blick macht das Buch auch für einen größeren Kreis von automobilhistorisch interessierten Lesern interessant. So kamen beispielsweise die Kastenwagen- und Kombiversionen des Ford Taunus 12 M der 1950er-Jahre von Karmann, ebenso das seltene Opel Diplomat A Coupé, der Porsche 356 B mit festem Hardtop, die CS-Sportcoupés von BMW und der Merkur XR 4 Ti, von dem wohl die wenigsten Leser je etwas gehört haben dürften (ein Ford-Mondeo-Ableger für den US-Markt). Und wer weiß schon, dass auch der erste Kia Sportage in Osnabrück aus angelieferten Teilen zusammengesetzt und lackiert wurde? Renault Mégane Cabrio und Chrysler Crossfire sind weitere Modelle aus Karmannscher Fertigung.
Nachdem immer mehr Autohersteller dazu übergingen, auch kleinere Serien selbst zu produzieren, sank der Stern von Karmann langsam aber stetig: 2009 lief als letztes Auto ein Mercedes-Benz CLK Cabrio vom Band. Im Rahmen der Insolvenz wurden Teile des Unternehmens an Industriegrößen wie Magna, Webasto und Valmet verkauft. Gebäude und Gelände in Osnabrück gingen an die neugegründete Volkswagen Osnabrück GmbH, die mit Kleinserien und dem Golf Cabrio die Tradition fortführt. Weit wichtiger scheint es noch, dass dabei rund 150 Modelle aus der Fahrzeugsammlung von Karmann, darunter etliche Prototypen für VW, gerettet wurden.
„Die Karmann-Story“ liest sich kurzweilig und besticht durch einige doppelseitige Fotos. Etwas verwirrend ist die Kapitelaufteilung, der eine leicht andere Reihenfolge nicht geschadet hätte. So wird der Ghia 1500 erstmals im Abschnitt über die brasilianischen Modelle SP1 und SP2 erwähnt, selbst aber erst ein paar Seiten später vorgestellt. Auch die großformatig eingefügten „Zwischenüberschriften“ irritieren ein wenig und hätten zugunsten von ein paar mehr oder etwas größeren Abbildungen gerne entfallen können. Dennoch ist es bemerkenswert, wie detailliert der Autor schreibt, denn das Unternehmensarchiv der Wilhelm Karmann GmbH ist derzeit noch nicht wieder zugänglich, und Bernd Wiersch musste sich vielfach auf eigenes Wissen und Sekundärquellen stützen. Das erklärt vermutlich auch, warum von einigen Fahrzeugen nur recht wenige bis gar keine Fotos zu finden sind.
„Die Karmann-Story“ von Bernd Wiersch ist im Delius-Klasing-Verlag erschienen. Das Buch hat 208 Seiten mit 118 Fotos und 12 Abbildungen und kostet 29,90 Euro