Technik – ESP
Ein Schutzengel feierte einen runden Jahrestag: Im März 1995 hat Mercedes-Benz das Elektronische Stabilitäts-Programm (ESP) eingeführt. Neben Gurt, Airbag und ABS ist diese Daimler-Erfindung das mit Abstand wichtigste Sicherheitssystem moderner Personenwagen und hat inzwischen mehreren tausend Menschen das Leben gerettet. Seit November 2011 ist ESP Vorschrift für neue Pkw in Europa. Schon vorher war es in den USA vorgeschrieben.
Mit dem Antiblockier-System (ABS) im Jahr 1978 und der Antriebsschlupf-Regelung (ASR) im Jahr 1985 hatte Mercedes-Benz mit elektronischen Systemen begonnen, fahrdynamische Prozesse zu regeln. 1995 folgte der nächste Schritt: Zusätzliche Sensoren, die den Richtungswunsch des Fahrers erkennen und herausfinden sollten, ob das Auto wirklich der Absicht seines Fahrers folgt. Seitliches Wegrutschen beobachtete der Querbeschleunigungssensor, das Drehen um die Hochachse des Fahrzeugs der Gierratensensor. Beide Sensoren waren Voraussetzungen für das elektronische Stabilitäts-Programm ESP. Ab März 1995 steckt die Weltneuheit serienmäßig im Luxus-Coupé S 600 (C 140). Wenige Monate später folgt der Einsatz in der Limousine der S-Klasse (W 140) und im SL-Roadster (R 129). Die V12-Modelle erhalten das Sicherheitssystem serienmäßig, für die V8-Modelle dieser Baureihen ist es zunächst optional lieferbar. Der Gierratensensor stammte aus der Wehrtechnik als Teil des Navigationssystems von Marschflutkörpern. Entsprechend hoch lag sein Einkaufspreis. Trotzdem war die Gewinnspanne beim ESP als Extra kleiner als üblich, um die Einführung des Systems zu erleichtern. Trotzdem lag der Aufpreis noch bei rund 2500 D-Mark.
Die rasante Verbreitung der Sicherheitstechnologie beginnt indes 1997 mit einem Eklat: Ein schwedischer Autotester der Zeitschrift „Teknikens Värld“ überschreitet den fahrdynamischen Grenzbereich und wirft bei einem abrupten Ausweichmanöver („Elchtest“) die neue kompakte A-Klasse um. Die hohe A-Klasse war einst als Elektroauto mit einer schweren Batterie im „Keller“ (Sandwich) entwickelt worden. Das Gegengewicht hätte das Kippen sicher erschwert. So aber hatte die A-Klasse auf einmal ein Problem. Was zunächst wie ein Rückschlag für Mercedes-Benz wirkt, wird zum Triumph als das Unternehmen 1997 ESP zum Serienstandard erhebt, zunächst für die A-Klasse, dann für alle Modelle. Bei den anderen Herstellern bricht daraufhin Unruhe bis Panik aus. Sie alle müssen nachziehen. Doch wo sollen die vielen ESP-Geräte so schnell herkommen; wer soll das bezahlen? Und die Motoren müssen auch noch geändert werden; denn ESP muss auch das Motorschleppmoment regeln, das zum Beispiel beim Gaswegnehmen an den angetriebenen Rädern entsteht. Doch das funktioniert nicht mehr mechanisch. Das sogenannte „E-Gas“ muss her. In den Vereinigten Staaten ist der Druck besonders groß. Dort sterben mehr als 4.000 Menschen jedes Jahr bei den sogenannten Run-off-Road-Unfällen, also bei Unfällen, bei denen das Fahrzeug aus der Kurve fliegt. Die National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) lernt am Beispiel der in den USA produzierten M-Klasse schon Ende der 90-ger Jahre sehr eindrücklich, dass ESP das Problem weitgehend aus der Welt schaffen kann. Schließlich müssen in den USA – beginnend 2008 – bis zum November 2010 alle Personenwagen und Pick ups mit ESP ausgestattet werden. Im Mutterland des ESP folgen das europäischen Parlaments und des Rates erst mit ihrem Beschluss vom 13. Juli 2009. Demnach müssen seit November 2011 alle in der EU neu zugelassenen Pkw- und leichte Nutzfahrzeug-Modelle serienmäßig mit ESP ausgestattet werden.
„ESP ist neben Gurt, Airbag und ABS das mit Abstand wichtigste Sicherheitssystem moderner Personenwagen“, betont Prof. Dr. Thomas Weber, Mitglied des Vorstands der Daimler AG und verantwortlich für Konzernforschung und Mercedes-Benz Cars Entwicklung. Erfunden hat den Schleuderschutz der Sicherheitspionier Mercedes-Benz. Die Einführung von ESP war ein wesentlicher Schritt zur Senkung der Unfallzahlen: Hätten alle Autos ein derartiges Stabilitätsprogramm, so schätzten die Unfallforscher des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) noch 2008, könnten allein in Deutschland pro Jahr rund 37.000 Unfälle mit Verletzten und 1.100 Unfälle mit Getöteten ganz vermieden oder deutlich weniger folgenschwer ausgehen. Demnach hat ESP europaweit bereits mehreren tausend Menschen das Leben gerettet. So funktioniert ESP: ESP hilft dem Fahrer in Situationen, in denen er die Beherrschung seines Fahrzeugs zu verlieren droht. Erkennt es eine fahrdynamisch kritische Situation, bremst es je nach Situation und Bedarf ein Rad oder mehrere Räder gezielt ab. Zusätzlich wird, falls vom System als notwendig erkannt, automatisch das Motordrehmoment angepasst. So wird das Schieben aus der Kurve (Untersteuern) oder das Ausbrechen des Hecks (Übersteuern) verhindert. ESP unterstützt den Fahrer also, sein Fahrzeug wieder zu stabilisieren, besonders in Kurven und bei plötzlichen Ausweichmanövern. Herzstück des Stabilitätsprogramms ist ein Gierratensensor (auch Giergeschwindigkeitsmesser). Er verfolgt ständig die Bewegung des Fahrzeugs um seine Hochachse und vergleicht den gemessenen Ist-Wert mit dem Soll-Wert, der sich aus der Lenkvorgabe des Fahrers und der Geschwindigkeit ergibt. Sobald das Fahrzeug von dieser gewollten Linie abweicht, greift ESP ein und verhindert Schleuderbewegungen schon im Entstehen.
So hat sich ESP weiterentwickelt: Schnellerer und feiner dosierter Aufbau des Bremsdrucks, höhere Rechenleistung der Steuergeräte, kompaktere Komponenten, neue Algorithmen – in zwei Jahrzehnten wurde ESP ständig weiterentwickelt. Ein wichtiger Meilenstein war die Einführung elektrischer Servolenkungen: Waren bis dahin nur Bremseingriffe und die Reduzierung des Motordrehmoments möglich, so helfen ab 2005 auch Lenkeingriffe bei der Stabilisierung des Fahrzeugs. Eine Diskussion über die richtige Abstimmung gab es nur in den ersten Jahren. Grob gesagt prallten zwei unterschiedliche Auffassungen über die optimale Regelung aufeinander: Ein BMW-Fahrer sollte gar nicht merken, dass er soeben vom System gerettet wurde. Bei Mercedes-Benz setzte man zunächst eher auf den pädagogischen Effekt eines härteren Eingriffs. Heute ist bei allen Marken eine elegante Regelung gefragt. Den Fortschritt bei der Abstimmung spürt der Autofahrer selbst am besten. Regelte die Elektronik die erste A-Klasse noch radikal bis zum – gefühlten – Stillstand herunter, greift ESP mittlerweile sehr behutsam ein und hält das Fahrzeug mit minimalem Tempoverlust auf der Fahrbahn. Mit dem Drei-Stufen-ESP der sportlichen Modelle von Mercedes-AMG bietet sogar maßgeschneiderte Fahrprogramme: Mit „ESP on“, „Sport Handling Mode“ und „ESP off“ kann auf Knopfdruck die Dynamik des Fahrzeugs variiert werden. Heute baut Mercedes-Benz eine ganze Philosophie auf dem Grundgedanken des ESP auf, genannt „Intelligent Drive“. Unter diesem begrifflichen Dach arbeiten eine Reihe vom Assistenzsystemen:Adaptive Brake: Das System erweitert das ESP um eine Berganfahrhilfe und die Hold-Funktion, die im Stillstand ungewolltes Vor- oder Zurückrollen automatisch verhindert. Der Aktive Spurhalte-Assistent korrigiert die Spur bei unbeabsichtigtem Spurwechsel, beim Überfahren von durchgezogenen Linien und bei erkannter Kollisionsgefahr durch belegte Nachbarspur (auch beim Überfahren unterbrochener Linien) mit einem einseitigen Bremseingriff.Der Aktive Totwinkel-Assistent: kann im letzten Moment durch einseitigen Bremseingriff dazu beitragen, eine drohende seitliche Kollision abzuwenden oder die Unfallschwere zu reduzieren. Die Anhängerstabilisierung: dämpft bei Bedarf die Pendelschwingung mit Hilfe radindividueller, wechselseitiger Bremseingriffe an der Vorderachse bzw. verlangsamt das Zugfahrzeug bei kritischer Geschwindigkeit. Der Bergabfahrhilfe DSR (Downhill Speed Regulation) kann bei anspruchsvollen Bergab-Passagen eine langsame, manuell einstellbare Fahrgeschwindigkeit einhalten. Dies geschieht mit Hilfe der Motor- und Getriebesteuerung sowie mit gezielten Bremseingriffen. Der Kurvendynamik-Assistent reagiert auf die Tendenz zum Untersteuern mit einem gezielten Bremseingriff am kurveninneren Hinterrad. Dadurch entsteht eine sanfte Drehbewegung des Fahrzeugs um die Hochachse. Der Seitenwind-Assistent: kann Spurabweichung über einseitigen Bremseingriff kompensieren (bei Fahrzeugen ohne Active Body Control). Das alles und all das, was im Zuge des autonomen oder pilotierten Fahrens noch auf uns zukommt und auf der Bremse als Aktuator beruht, hat natürlich auch Väter, Entwickler, die aus der Idee ein Produkt werden ließen. Drei der Verantwortlichen sollen beim „Geburtstag“ nicht ungelobt bleiben: Armin Müller in der Mercedes-Benz-Forschung, heute Vice President Future Projects bei Porsche, Frank-Werner Mohn, Mercedes-Benz-Entwickler und Anton van Zanten, der damalige Leiter der ABS-Entwicklung beim Zulieferer Bosch. Die Drei und ihre Kollegen haben vermutlich schon jeden von uns, die wir im Auto vorn oder hinten sitzen, vor Schaden bewahrt. Man gut, dass wir das nicht so genau wissen, aber die Statistik spricht da eine klare Sprache. Ein Ziel wie Vision Zero – Europas Weg zu unfallfreiem Verkehr – wäre nicht erreichbar ohne die intelligente Bremse und die Intelligenz der Entwickler, sie zu unserem Schutz einzusetzen.
Peter Schwerdtmann/amp